«Stand up my Beauty»
Die Filmabende in unserem Gemeindehaus sind schon lange zu einer schönen Tradition geworden. Doch nicht allein wegen der Filme, die andere Lebens- und Glaubenswelten zeigen, Gesellschaftsfragen thematisieren oder durch die Kunst der Komödie zum Gespräch anregen, werden die Abende geschätzt; auch der gemeinsame Austausch vor und nach dem Film, verbunden mit einem Apéro, machen diese Abende zu einem wichtigen Ereignis im Terminkalender vieler.
Letzen Freitag war es wieder soweit, und auf den roten Ledersofas und dahinterstehenden Stühlen hatten sich dieses Mal lauter Stammgäste eingefunden. Daniel Reicke, der die Filmabende einst ins Leben rief und diese seit acht Jahren gestaltet, begann mit einem kurzen Bericht über die Schweizer Dokumentarfilmerin Heidi Specogna.
Der Schwerpunkt ihres Filmschaffens liegt in Lateinamerika und Afrika. Eigene Filmreihen bei den Solothurnern Filmtagen und dem DOK.fest München widmeten sich ihren Produktionen. Ihr letzter Dokumentationsfilm «Stand up my Beauty» von 2021 wurde für diesen Abend ausgewählt. Hier begleitet die Regisseurin die junge Sängerin Nardos auf einer Reise durch Äthiopien. Auf der Suche nach Texten für ihre Lieder trifft diese auf die Dichterin Gennet, die mit ihren Kindern auf der Strasse lebt.
Dann hiess es «Film ab», und wir sahen eine junge Frau mit langen gekräuselten Haaren, die vor einem behelfsmässigen Haus sitzt, Kaffee röstet und dabei versonnen ein Lied vor sich hinsingt. Nardos ist Azmari-Sängerin in Addis Abeba, ihre traditionellen Lieder leben von der Improvisation und den packenden Rhythmen.
Schnittwechsel: In einem mit bunten Tüchern dekorierten Club probt die Sängerin mit anderen Musikern, die sie auf einer einseitigen Violine und einigen Trommeln begleiten.
Die Künstlerin beschreibt sich selbst als schüchtern, doch als Azmari-Sängerin müsse sie ihr Publikum unterhalten. Auch vor nur einem Gast würde sie deshalb auftreten.
Dass es deutlich mehr sind, sahen wir in einer anderen Szene: Die weissgekleidete Nardos singt hinreissend und mit verschmitztem Schalk. Einzelne Gäste antworten ihr singend oder tanzend. Wie Gold und Wachs beschreibt sie später die Kunst des Improvisierens, die in einer Art Sprechgesang fröhlich und ironisch daherkommt, aber auch subtil Kritik äussert. Das Gold steht für die versteckte Botschaft, die das Wachs umhüllt.
Nardos arbeitet nachts von 21 Uhr bis 3 Uhr morgens. Tagsüber kümmert sie sich um ihren schulpflichtigen Sohn, ihr neugeborenes Baby, organisiert die Party für die Taufe mit 40 Gästen und dies, obwohl der Strom im Slum wieder ausgefallen ist.
Trotz allen Widrigkeiten verfolgt sie ihren Traum, eigene Lieder zu schreiben. Und sie weiss auch genau worüber: Von den unzähligen, zwangsverheirateten Mädchen, die oft schon bei der Taufe einem Mann versprochen werden. Ihr selbst blieb dieses Schicksal erspart, doch nur weil ihre Mutter sie als Siebenjährige zu einer Tante nach Addis Abeba gab. Ein Meer aus Tränen hätte sie geweint, erzählt die alte Frau, die ihren Schmerz hinter einem Lächeln tarnt.
Auch die anderen Frauen, mit denen Nardos spricht, verstecken ihre leidvollen Erfahrungen, manche singend, andere schreibend.
Gennet, die mit ihren zwei Kindern vom Gemüseverkauf lebt und in ihrem Strassenstand auch wohnt, wollte eigentlich aufs College. Doch dann wurde ihre kranke Mutter von ihrer Herrschaft entlassen, und sie landeten auf der Strasse. Die pragmatische Dichterin lässt sich trotzdem nicht entmutigen und schreibt, so oft sie dafür Zeit findet, ihre poetischen Texte weiter.
In vielen Einstellungen zeigt der Film Strassenszenen, Slums und Hochhäuser der äthiopischen Hauptstadt, bizarre Bergwelten, dörfliches Leben, Frauen, die schwere Lasten tragen, spielende Kinder, scheue Mädchen und vereinzelt sensible Männer. Authentisch und trotz aller Schwere mit viel Situationskomik.
Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, denn vielleicht wollen Sie den Film selbst anschauen? Auf myfilm.ch ist er derzeit zu sehen.
Falls Sie mehr über Äthiopien erfahren möchten, bietet sich dafür der nächste Filmabend am 16. Juni an. In «Urban Genesis», einem Film von Dodo Hunziker, zeigt der Dokumentarfilmer die Arbeit eines Berner Architekten, der mit einer Modellstadt der Landflucht entgegenwirken möchte. Ob das mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf dem heissen Stein ist? Diese Frage verspricht schon jetzt eine spannende Diskussion nach dem Film.
Annekatrin Kaps
30.03.2023